In Bruges

Ken: Der Junge ist suizidgefährdet, er ist ein lebender Toter. Redet immerzu von der Hölle und Fegefeuer.
Harry: Als ich dich gestern anrief, hab ich da gesagt Ken, kannst du mir bitte einen riesen Gefallen tun und Rays Psychiater werden? Nein, ich glaube ich hatte dich gebeten: Könntest du für mich seinen beschissenen Kopf wegpusten? Er ist suizidgefährdet. Ich bin suizidgefährdet, du bist suizidgefährdet, jeder ist scheiß suizidgefährdet, nur dass wir nicht ständig darüber reden. Hat er sich bereits umgebracht? Nein, dann ist er auch nicht scheiß suizidgefährdet, oder?
(Dialog aus Brügge sehen und sterben?)
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Tagsüber sieht Brügge anders aus als im Film. Das liegt daran, dass vor lauter Leuten Brügge kaum zu sehen ist, zumindest am Ostersamstag ist das so. Wahrscheinlich hat man am meisten von der Stadt, wenn man an einem Novembertag über das Pflaster schlendert. Oder man streift nachts durch die Gassen, vielleicht weil ohnehin der zweite Hunger kommt und man noch ein Pfund oder so Mitternachtsfritten mit Schmorfleisch verputzen möchte und man vorher schon Durst hatte und danach erst recht. Man taucht dann in eine Szenerie ein, in der kaum ein Haus nach dem 18. Jahrhundert entstanden zu sein scheint und in der sich der Begriff Altstadt verbietet, weil die gesamte Stadt alt ist. Sehr alt, unverändert erhalten, nach einem Jahrhunderte währenden Dornröschenschlaf erst im 20. Jahrhundert wieder entdeckt und wieder erwacht, nachdem Georges Rodenbach „Das tote Brügge“ geschrieben und die Menschen in Scharen in die so lange vergessene Stadt getrieben hatte. 

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brügge_6Die erste Besiedlung auf dem heutigen Gebiet der Stadt Brügge geht auf das 2. Jahrhundert zurück. Nachdem Brügge später den Plünderungen durch die Wikinger nicht zuletzt aufgrund einer starken Festung widerstehen konnten, welche die Grafen von Flandern bauen ließen, entwickelten sich die Handelsgeschäfte besser und besser. Im 14. Jahrhundert war Brügge eines der wichtigsten Handelszentren in Nordwesteuropa und nach Paris die zweitgrößte Stadt. Die erste Börse wurde dort gegründet, benannt nach einer wohlhabenden Brügger Handelsfamilie, den van der Beurse. Rund um die Stadt verlief eine Wallanlage, die heute zu Rad- und Fußwegen geworden ist und die alten Stadttore und Windmühlen verbindet. 

Gut eingepackt in alle Schichten Kleidung, die ich meinem bescheidenen Reisegepäck entnehmen konnte, haben wir uns durch die nachts etwas zugigen Gassen treiben lassen und den mittelalterlichen Reichtum erahnt, zu dem die Stadt im Goldenen 15. Jahrhundert unter den Herzögen von Burgund gelangte. Die Burgunder waren starke Förderer der Künste und neben die schon seit langem betriebenen Textilindustrie trat fortan die Produktion von Luxusgütern verschiedenster Art.

brügge_25Bei diesem Stichwort kommt mir ein Fahrradladen in Brügge in den Sinn, irgendwas mit „Bike Luxury“ oder so war der Name. Die Wände hingen voll mit Replikationen alter Radsportfotos, in den Regalen lagen die bekannten Hochglanzpublikationen über Fahrradmarken und Radsporthistorie, ein paar Trikots und auf retro gemachte Taschen – und im gesamten Laden stand kein einziges Rennrad, sondern nur urbane Fortbewegungsmittel in mal modernem, mal nostalgisch angehauchten Design; die Betonung liegt auf Design. Das hat mich überrascht, ist Flandern mir bis dahin und auch danach ganz anders begegnet, als ausgesprochene Radsportregion mit Betonung auf Radsport. Aber davon ein anderes Mal.

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brügge_5_smMit Brügges lifestyle ging es ab dem 16. Jahrhundert allmählich bergab. Die Burgunder verließen Brügge, der wichtige Zugang zu See versandete. Stück für Stück zog sich der Handel aus Brügge zurück, bis irgendwann Antwerpen an seine Stelle trat. Es folgten Jahrhunderte der Herrschaft unter wechselnden Regenten, den Spaniern, den Österreichern, den Franzosen, den Niederländern. Am Niedergang der Stadt änderte sich nichts und mit dem heraufziehenden 20 Jahrhundert war Brügge längst eine arme und unbedeutende Stadt geworden, an der die industrielle Revolution völlig vorbeigegangen war. So sieht es dort heute noch aus, wie es vor Jahrhunderten aussah. Als Stadt, die in einzigartiger Weise seit dem Mittelalter erhalten geblieben ist,  ist Brügge UNESCO Weltkulturerbe.

Weil man es in Brügge so geballt „periodengerecht“ abbekommt und dem kreuzbuben dann doch der eine oder andere Kontrast und Bruch fehlt, habe ich uns so einquartiert, dass uns der Geist nicht in alle Richtungen von rotem Ziegel ummauert wird. Eine recht zentral gelegene ehemalige Brauerei hat unser Gastgeber, ein Architekt, zum Wohnaus umgebaut und bietet darin für eine Handvoll Leute Bed and Breakfast an. Um genauer zu sein, während unseres Aufenthalts hat seine ganz entzückende Tochter das übernommen, die Eltern waren verreist. Wir kommen also am Abend gegen 22:00 Uhr dort an, und kurz nach dem Öffnen der Tür meint die junge Dame, wenn man so lange Rad gefahren sei, müsse man doch erst einmal ein Bier trinken. (In Belgien dreht sich alles sehr viel ums Bier, davon wird noch die Rede sein) Sprach’s, kam mit ein paar Flaschen zurück und meinte, ach, da trinke ich doch gleich eins mit. Schön war’s dort, und deshalb gibt es davon die abschließenden Bilder für heute.

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