Historica, 2

When I was young, it was more important
Pain more painful, the laughter much louder, yeah
When I was young
 (Eric Burdon & The Animals, When I was young)
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gino_smAm Freitagvormittag dringt eine uralte, fast schon eine Grabesstimme aus dem Telefonhörer: „Ich habe Fieber, ich kann morgen nicht kommen.“ Normalerweise kenne ich so alte Leute nicht, es dauert einen Moment bis ich glaube, dass da gerade Twobeers zu mir spricht. Ursprünglich wollte er bei mir übernachten, um die Historica mit mir zu fahren. Dann bläht sich der Eisenschweinkader auf Mannschaftsstärke auf und so viele Kopfkissen habe ich nicht. Also bummele ich am Samstagmorgen gegen sieben auf dem alten Gino über die Landstraße nach Leipzig und hole den Kader am Bahnhof ab. Mittendrin Twobeers, Eiserner unter Eisernen. Die Historica will er sich nicht entgehen lassen.

Leipziger Communalgarde

Leipziger Communalgarde

Eine halbe Stunde später sind wir außerhalb der Stadt auf der alten Trabrennbahn in Panitzsch, die wieder als Start-Ziel Location der RTF dient. Die Communalgarde ballert ohrenbetäubend mit der Starterkanone los, mit einem läppischen Starterpistölchen geben wir uns erst gar nicht ab. Die Eisenschweine kurbeln mit den anderen Pedaleuren durch den Pulverdampf los, darunter justbiking und carodame.

Start zur Historica 2014

Der Sachse und Frö am Start

justbiking_historica

historica start_3

Der kreuzbube hingegen freut sich, mal nicht Rad fahren zu müssen. Denn kreuzbube ist anders als im vergangenen Jahr nicht als Fahrer, sondern in bescheidenem Umfang als helfende Hand zugange und erzählt euch jetzt, wie sowas geht, Historica und RTF vom Halle-Leipziger Express.

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historica_karteEs ist ja nicht so, dass man mit 360 Leuten einfach mal so durch den Landkreis Leipzig und angrenzende Regionen fahren kann. Da ist das Amt vor, das will gefragt werden, will einwenden, will genehmigen. Aber welches Amt, wenn es es überhaupt ein einziges ist, ist zuständig für die insgesamt 300 km Wegstrecke? Das muss man erst einmal herausfinden. Das für den Start-Ziel-Ort ist es und damit das Amt im 45 km entfernten Borna. Dort wird der Streckenvorschlag eingereicht und das ist keine simple Sache. Internetlinks verbieten sich, die Routen müssen in etliche Abschnitte zerteilt im jpg-Format übermittelt werden. Dann geht’s los: Da können Sie lang fahren, da nicht, dort ist eine Baustelle, da eine Umleitung, hier eine Vollsperrung, über diese Brücke können sie nicht, usw. An den Routen wird gefeilt, Alternativen werden entworfen und vorgeschlagen, schließlich stehen die insgesamt 300 km – vorerst.  Was fehlt, sind allerdings zusätzliche Zufahrtsgenehmigungen. Auf den Collmberg etwa soll ein Verpflegungspunkt. Damit ein Auto alles rauf bringen darf, braucht man eine Genehmigung. Für die ist das bereits zuständige Borna aber nicht zuständig, sondern das 30 km entfernte Delitzsch. 

Histo-20 Kopie

Zusagen braucht’s auch unterwegs an den Verpflegungspunkten. Wieder wird geschildert, gefragt, gebeten, genehmigt. Die Familie Enghardt als Eigentümer des Türmerhauses auf dem Rochlitzer Berg sagt die Nutzung des Geländes zu. Der Heimatverein Fremdiswalde ermöglicht den Aufbau des Verpflegungspunkts auf dem Dorffestplatz, die Stadt Schildau stellt den Marktplatz zur Verfügung.

historica_2014_3

Habt ihr euch mal überlegt, wie die Ausschilderung bei so einer Strecke vonstatten geht? 600 Richtungspfeile sind anzubringen. Mehrere Teams bilden sich und beschildern die einzelnen Strecken, von 30 km bis 200 km. An kritischen Punkten kommt zusätzlich Sprühkreide zum Einsatz, die hat nicht jeder Finsterling in verwerflicher Irreführungsabsicht dabei. Doppelt hält besser.

izoardDer Hallzig Express hat glücklicherweise Ralf Izoard Kügler in seinen Reihen, der von 2001 bis 2008 schon bei der Deutschlandrundfahrt mit der Ausschilderung betraut war. Seine Erfahrung, sein Roadbook und sein monatelanger Einsatz sind Gold wert. Nachdem die Starter alle auf der Piste sind und wir beim Kaffee zusammensitzen,  erzählt er mir ein paar Anekdoten. Vor allem, wie man bei einem bereits laufenden Radrennen dem Feld entgegenfahrend die Streckenführung auf den buchstäblich letzten Drücker noch ändert, ist eine spannende Sache. Wie im Cartoon, sage ich euch. Nach der Veranstaltung und bevor am Montag alle wieder arbeiten gehen, müssen die Schilder wieder eingesammelt werden. Sie kosten einen knappen EURO das Stück, der Kassenwart soll nicht gar zu viele Tränen vergießen.

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360 Teilnehmer wollen angemeldet werden, bekommen Starterbeutel und Startnummern, müssen an Start und Ziel und unterwegs verpflegt und mit Getränken versorgt werden. Dutzende freiwilliger Helfer backen und schmieren Brote, kaufen ein, stellen die Ladungen für die Verpflegungspunkte zusammen und steuern diese frühmorgens an. Dort werden weitere Helfer benötigt, teils sind ganze Familien im Einsatz. Im Vorfeld werden Transporter gesucht und gefunden, um alles dort hin zu bringen, wo es hin muss.

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Tische, Bänke, Zelte, Pavillons, die Soundanlage und ein Getränkewagen mit Zapfanlage und Kühlung werden aufgebaut. Manche Teilnehmer kommen von weiter weg, auch aus dem Ausland. Mit Wohnmobil oder Zelt übernachten sie auf dem Gelände. Damit ein zivilisatorischer Mindeststandard gewahrt bleibt, wird ein Container mit sechs Duschen und Waschbecken organisiert.

Histo-24 Kopie

Mützen, T-Shirts und Trikots werden als Erinnerungsstücke entworfen und produziert. Für alles gibt es vorher einen wohldurchdachten Plan, der sich aber zunehmend als unverbindliche Absichtserklärung entpuppt, denn letztlich kommt sowieso vieles anders. Auch das Amt bringt sich noch einmal in Erinnerung. Zwei Tage vor dem Start wird die erst vor einem Jahr sanierte Pöppelmannbrücke über die Mulde zum Tabu erklärt. Neuer Plan, neue Vorschläge, neue jpg-Bilder… alles einzureichen binnen zwei Stunden, sagt das Amt.

oliKurzum: Bevor die Kanone losballert und bevor sich auch nur eine einziges Pedal gedreht hat, haben viele Leute über Monate hinweg rotiert. Im Rotationszentrum steht als ruhender Pol El Presidente Oli Salamander Faxenschwamm Polz und wirkt den Fliehkräften entgegen. Man darf sich da nichts vormachen: Hat man bei der Ämtervergabe einmal voreilig die Hand gehoben, dann hat man später alles an der Backe. Vom großen Ganzen bis hin zur Aufbewahrung des Kreuzbubenbackblechs in heimischen Räumen, die nicht zu knapp mit Vereinsutensilien in Beschlag genommen sind. Wahrscheinlich wohnt da gar keiner mehr und die Familie ist längst ausquartiert.

Alle Starter sind unterwegs, laben sich an den Kontrollpunkten an Lachsschnittchen, Salami, Käse und auch an Rotwein. Unterdessen frühstückt der kreuzbube und auch die anderen Helfer verschnaufen ein, zwei Stunden lang und feuern die Kleinsten beim Kinderrennen an.

historica kinderrennen

twobeers_4Die ersten Fahrer rollen nach und nach ins Ziel und schon kommt auch der fiebrige Twobeers angeflogen, fiebert dem Getränkewagen entgegen und dem Entertainment der weiteren Anwesenden, denn ab diesem Moment ist der Eisenschweinkader sehr präsent, um es mal so zusagen.  Als erstes wird die Zapfanlage von Twobeers neu verkabelt, dann gibt’s Geschichten, die des Unterhaltungswert wegen durchaus auch mal angereichert werden…  Dann bin ich -immer auf dem großen Blatt- senkrecht die Wand hinauf.

Das Wetter an diesem Tag hält einstweilen, es ist mal kühler mal wärmer, doch dann werden die Radrennfahrer auf den längeren Strecken nass. Der Eisenschweinkader durchfährt nach straffer Fahrt in mehreren Grüppchen das Ziel, die Trikots durchweicht und auch die Socken. Dafür werden sie von den bereits im Ziel befindlichen ESKlern lautstark angefeuert. Pfiffe, Johlen, Jubel: E-ES-KA! E-ES-KA!

ESK-ziel

Das Areal füllt sich, nach und nach treffen alle Starter ein, auch die Marathonfahrer, die bereits um 8:00 auf die Piste gegangen waren. Der Plan für die Helfer wird mittlerweile interpretiert, wie es sich gerade anbietet. Jeder packt dort an, wo es gerade erforderlich ist. Für den kreuzbuben endet der Tag am Abend, er gibt erneut den Guide und geleitet die Gäste durchs Stadtgebiet zurück zum Bahnhof. Auf der Trabrennbahn wird derweil noch gefeiert, bevor die ersten Aufräumarbeiten beginnen, die sich am darauffolgenden Morgen fortsetzen, denn nun geht’s rückwärts.

Alle namentlich zu erwähnen, die zum Gelingen beigetragen haben, scheitert an der Menge der Helfer. Der kreuzbube war Randfigur, alle anderen haben sich weitaus mehr ins Zeug gelegt, damit auch dieses Jahr die Teilnehmer aus nah und fern einen schönen Tag in und um Leipzig herum haben. Kaum ist die Historica Geschichte, setzen schon die ersten Überlegungen ein, was könnte, sollte, müsste besser werden. Ich für meinen Teil kann nur sagen, die Veranstaltung soll ruhig ihren Charakter beibehalten. Sie entsteht aus der privaten und freiwilligen Initiative vieler Mitwirkender, sie ist keine Massenveranstaltung im Sinne von Massenbusiness, hier steht weder die Tourismusbranche im Hintergrund noch ist ein Eventveranstalter federführend, und so darf es ruhig bleiben. Wenn es irgendwo geklemmt haben sollte (dem Vernehmen war zwischendurch mal an einem Verpflegungspunkt das Brot ausgegangen), dann war das nichts Dramatisches. Und wenn das Brot alle ist, dann essen wir halt Kuchen.
Weitere Fotos gibt es nach und nach in den Kommentaren.

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Nachtrag: 1.000.- EUR Spendengelder brachte die Historica, die dem Kindeshospiz Bärenherz übergeben werden konnten.

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13 Antworten zu Historica, 2

  1. prieditis schreibt:

    Herrliche Eindrücke! Da bekomm´ich Lust, mal mitzufahren.
    Da wäre allerdings die Frage nach dem Startzeitfenster ;o)

    • kreuzbube schreibt:

      Was ist ein Startzeitfenster? Start ist, wenn die Garde die Lunte entzündet und Hell’s Bells über das Gelände dröhnt.

      6:00 Uhr aufstehen reicht, da kann man sich noch locker Warmfahren bis nach Panitzsch…

    • kreuzbube schreibt:

      Weil wir auf so etwas Naheliegendes wie den Umstand, dass die Völkerschlacht mit Kanonen zu tun hatte, nicht gekommen sind.

      Andererseits, das Bataillon (wie viele „t“ und „l“ waren das noch gleich?) gibt’s erst seit 1830, wäre also nicht periodengerecht gewesen.

  2. Sven schreibt:

    Toller Bericht übers „Innenleben“, selbst wenn man etwas näher dran ist, überrascht die Fülle der Facetten immer wieder. War mir im Übrigen eine Ehre den ein oder anderen ESKler kennenzulernen. Bis bald hoffentlich auf dem Rad…..

    • kreuzbube schreibt:

      da kannste mal sehen wie’s war, auch wenn du selbst mitten drin warst… 😉

      heute abend gibt es noch fotos, jetzt muss ich aber erst mal mit dem rad weiter, die pause ist rum.

  3. prieditis schreibt:

    Die 072 hat mir meine Bux geklaut!

  4. Oliver Below schreibt:

    Ich war das erste Mal mit meinem schönen, alten und vor allem stabilen(!) dabei Pinarello Catalano. Super Organisation, da ist viel Fleiß dahinter. Herzlichen Dank dafür! Nun gut, meinen Muskelkater und meine Gesäßschmerzen wollt ich gerne auf den Veranstalter schieben, aber das hat mir mein Spiegelbild verboten 🙂 danke nochmal an die Organisatoren und an meine liebe Frau Diana, die ganz tapfer an meiner Seite gefahren ist. (ohne wie von mir befürchtet unterwegs einzuschlafen)
    PS. Ich wäre für zwei neue Preise. Einen für das schönste italienische Rad und einen für den schwersten Fahrer. Bei einem davon rechne ich mir gute Chancen aus. Herzliche Grüße von Oli !

    • kreuzbube schreibt:

      hervorragende idee! ein preis für den schwersten fahrer. es kann ja nie genug preise geben. glückwunsch auch zur radfahrenden frau, wir hecken hinter den kulissen gerade radsportliches explizit für paare aus. mehr dazu, wenn es konkreter wird.

  5. mark793 schreibt:

    Wie penibel war denn das Reglement, was die Historizität der Räder angeht?

    • kreuzbube schreibt:

      Es gab kein Reglement, was die Historizität der Räder angeht. Jeder war willkommen, ob er seinen Klassiker bewegen und zeigen oder mit irgendeinem anderen Rad teilnehmen wollte.

      Einen Trend bei den Rennrädern vermeinte ich auszumachen: Viele waren vor allem auf den langen Strecken mit Clickpedalen bestückt und die Leute fuhren ihre heutigen Radschuhe, statt sich in uralte Schnäppchen zu zwängen.

      • mark793 schreibt:

        Ist bei der Klassikerausfahrt auch so, dass mindestens die Hälfte der Teilnehmer Klickies fährt. Ich trete, wenn ich (wie meistens) mit Monsieur Mercier unterwegs bin,selbstredend stilechte 600er-Pedale mit Chromkörbchen und bin dieses Jahr bestimmt noch keine 100 Kilometer in Klickies gefahren. Die damit bestückte rotgraue Rakete blieb heuer meistens im Silo. An meinen diesbezüglichen Präferenzen ändert auch die Streckenlänge nichts, die Vaalserberg-Tour war mit 200 meine längste Fahrt ever, und da haben die Füße keinerlei Beschwer verursacht, selbst wenn die Sohlen meiner normalen Schuhe nicht ganz so brettsteif sind wie die Shimano-Treter.

        Auf Malle (und bei kleineren Runden im Westerwald mit dem Damenrad) bin ich sogar mit Bärentatzen rumgegurkt, was sich immer erst mal komisch anfühlt, wenn der Fuß so gar nicht fixiert ist, aber nach paar Kilometern kann man sich auch daran wieder gewöhnen.

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