Der Mönch

Wohl die berühmteste Szene der Radsportgeschichte zeigt die beiden großen italienischen Kontrahenten Gino Bartali und Fausto Coppi. Bei der Tour de France fahren Coppi (im gelben Trikot des Führenden der Gesamtwertung) und Bartali über den Col d’Iseran. Ein Fotograf fängt den Moment ein, in dem ihrer beider Hände gemeinsam eine Wasserflasche halten. Dieses Bild soll fortan für Jahrzehnte Anlass für Interpretationen und Diskussionen unter den Radsportfans, vor allem der Bartalista und der Coppista, der jeweiligen Fans beider Rennfahrer, sein.  Wer hat wen um Wasser gebeten, wer hat wem etwas angeboten? Hält Coppi die Hand nach hinten, bittet seinen Rivalen um dessen Trinkflasche oder reicht er seine eigene Flasche zurück, an Bartali?

gino_3Bartalista oder Coppista? Das war die Bekenntnisfrage für italienische Radsportfans. Gino Bartali, 1914 in einem Dorf bei Florenz geboren, in den dreißiger Jahren Gewinner dreier Giri D’Italia und Sieger der Tour de France 1938, bevor Krieg und Faschismus ihn seiner besten Rennfahrerjahre beraubten, gelang etwas bis heute nie da Gewesenes. Zehn Jahre nach seinem ersten Tour de France Sieg, nach den Kriegsjahren ohne Rennen, gewann er 1948 die Tour de France ein zweites Mal. Fausto Coppi, fünf Jahre jünger als Italiens bis dahin größter Radsportler, wurde in den 50er Jahren für Jahrzehnte zum erfolgreichsten Radrennfahrer überhaupt, der erst von Eddy Merckx übertroffen werden sollte.

Bartalista oder Coppista? kreuzbube beantwortet diese Frage nicht nach den Palmarès. Im Herbst 1943, Italien hatte im Krieg bereits einen Waffenstillstand mit den Alliierten vereinbart und Mussolini war auf Befehl von König Vittorio Emanuele III verhaftet wurden, da machten die Deutschen Ernst im Lande ihre Verbündeten. Sie enwaffneten alle italienischen Verbände und besetzten Rom. Deutsche Fallschirmjäger befreiten Mussolini, brachten ihn nach Ostpreußen und installierten eine Marionettenregierung in Norditalien. Die Judenverfolgung, die es bis dahin zwar auch in Italien gab, die aber vergeichsweise zurückhaltend, ohne die planmäßig betriebenen deutschen Massenvernichtungen vonstatten ging, gewann unter dem Diktat der Deutschen an Härte und Unbarmherzigkeit.

road_to_valourElia Dalla Costa, der Erzbischof von Florenz, der sich zuvor bereits standhaft geweigert hatte, anlässlich Hitlers Besuch in der Stadt Naziflaggen an Dom anbringen zu lassen, kümmerte sich um die Rettung jüdischer Flüchtlinge – und gewann den ihm seit langem verbundenen, zutiefst gläubigen Gino Bartali, ein Teil der Hilfe für die Verfolgten zu werden. Und so unternahm Gino Bartali „Trainingsfahrten“, in Jahren, in denen es gar keine Rennen mehr gab. Hunderte von Kilometern fuhr er und transportierte im Rahmen seines Rennrads, im Sitzrohr unter der Sattelstütze,  Passfotos und gefälschte Dokumente, die seinen jüdischen Mitbürgern die Flucht aus Italien ermöglichen sollten. So war Gino Bartali an der Rettung hunderter italienischer Juden beteiligt und entging selbst nach seiner zwischenzeitlichen Verhaftung nur knapp der Aufdeckung seiner Aktivitäten. Weder zu seiner Frau noch zu irgend jemanden sonst sprach er je über das, was er in den Kriegsjahren riskierte, um andere zu retten. Er tat dies auch später nicht, über Jahrzehnte hinweg nicht. Für Bartalis Biographen Aili und Andres McConnon wurde nach zehn Jahren Recherche deutlich, dass wir nie den vollen Umfang dessen, was Bartali in diesen Kriegsjahren tat und all die Risiken, die er auf sich nahm, erfahren werden. Zu seinem Sohn sagte er:

„If you’re good in a sport, they attach the medals to your shirt and then they shine in some museum. That which is earned by doing good deeds is attached to the soul and shines elsewhere.“

1948 steht Italien kurz vor dem Bürgerkrieg, nachdem Palmiro Togliatti, der Führer der Kommunisten einem Attentat zum Opfer fällt und mit dem Tode ringt. Während der Tour de France erhält Bartali einen Anruf vom Ministerpräsidenten de Gasperi, der ihn bittet und drängt, die Tour zu gewinnen, um die Italiener zu einen und ein Blutvergießen zu verhindern. Es wird erzählt, Togliatti habe nach dem Erwachen aus der Bewusstlosigkeit als erstes gefragt, wie es bei der Tour der France stehe: „Was macht Bartali?“. Zunächst noch weit abgeschlagen hinter dem Führenden Franzosen Louison Bobet, gewann Bartali die Tour schließlich mit 26 Minuten Vorsprung. Bartali selbst spielte aufkommende Lobeshymnen auf seine „Rettung Italiens“ herunter: „I don’t know if I saved the country, but I gave it back its smile.“

bartali_DVDGino Bartali, genannt Der Mönch, starb am 05. Mai 2000 im Alter von 85 Jahren. Fausto Coppi wurde nur 40 Jahre alt. Bei einem Rennen in Overvolta in Afrika erkrankte er 1959 an Malaria und starb daran. Bis zu Coppis Tod erzählten beide beharrlich ihre eigenen Versionen der eingangs erwähnten berühmten Szene. Coppi meinte, er habe Bartali seine Wasserflasche nach hinten gereicht. Bartali wiederum bestand darauf, von Coppi nichts bekommen zu haben. Er habe ihm seine Flasche überlassen. Das italienische Fernsehen RAI hat Gino Bartalis Leben verfilmt und zeigt uns eine Minute lang selbstverständlich auch diese große Szene der Sportgeschichte:

kreuzbube fährt morgen früh bei einer Ausfahrt für historische Räder mit. Und das tut der kreuzbube so, mit einer Verneigung:

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(Gut, wenn man ein Bild bearbeitet und dabei gerade noch rechtzeitig merkt, dass man das Kürzen der Kette vergessen hat.)

Empfehlungen:

  • Aili McConnon und Andres McConnon, The Road to Valour, London 2012 (englischsprachige Biographie Gino Bartalis, an der die beiden Autoren zehn Jahr lang gearbeitet haben. Mehr als 250 Fußnoten belegen den Umfang ihrer Recherche. Die Zitate in meinem Beitrag stammen aus diesem Werk)
  • rp-online: Ganz Italien trauert um Gino Bartali 
  • Bartali: (zwei DVDs, ca 208 Minuten. Italienisch mit englischen Untertiteln)

Buch und Film gibt es wie immer, wenn ich etwas vorstelle, leihweise in der Bibliothek kreuzbube. Mit der DVD kommt man auch ohne Italienischkenntnisse gut klar. Die Handlung erklärt sich von selbst, den Rest machen die englischen Untertitel.  Eine klare Empfehlung von mir für kommende Herbstabende. 

PS: Die Stadt Florenz bewirbt sich anlässlich des 100. Geburtstags Gino Bartalis darum, Startort der Tour der France im Jahr 2014 zu sein.
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23 Antworten zu Der Mönch

  1. Jan Mangiagli schreibt:

    Hier die Filmaufnahme der Flaschenübergabe. Das berühmte Foto ist einen Tag nach der tatsächlichen Übergabe, extra für die Presse gestellt, geschossen worden!

  2. kreuzbube schreibt:

    Nachtrag März 2015: don fernando, unser Mann in Italien, sendet den Hinweis auf diesen schönen Blumenkorso in San Remo mit einem bekannten Motiv:

    http://www.demotix.com/news/7085868/flower-parade-during-sanremo-fiore-2015

  3. kreuzbube schreibt:

    Beneidenswert, würde ich normalerweise schreiben. Aber wie ich las, gab es beim Straßenrennen Donner, Blitz und Dauerregen; Stürze in jeder Kurve und einer nach dem anderen stieg aus, von Cadel Evans über Bradley Wiggins bis hin zu Chris Froome.

  4. don ferrando schreibt:

    Bin ganz in der Nähe.

  5. kreuzbube schreibt:

    don ferrando, der Vochte (mit langem oo…) , wie wir hier den Jens Voigt zu nennen pflegen, hat sechs Kinder, und zuhause Waschmaschinen und Trockner in einer Doppelreihe übereinander stehen. Nun müsste man mal nach den Geburtsdaten schauen.

  6. sehr „ernste“ hintergründe, die ich noch nicht kannte!

    etwas weniger ernstes, das peter winnen in „gute beine schlechte beine“ schreibt… „…B. der große italienische Campionissimo aus den vierziger Jahren, machte keinen Hehl daraus, dass er nur zu Weihnachten vögelte. Einmal soll er sogar gerufen haben: Am ersten Weihnachtstag kommt da nur Pulver raus!…“

  7. donferrando schreibt:

    Hier noch ein Lied von Paolo Conte zum Thema

  8. kreuzbube schreibt:

    @cut, diese Geschichte wenigstens einmal anzureißen, hatte ich mir schon lange vorgenommen. Da gäbe es so viel zu ergänzen, das würde den Rahmen des Blogs sprengen. Bei seiner Verhaftung durch Faschisten haben sie ihn mitsamt seinem Fahrrad hochgehen lassen. Er hat dann schließlich „gestanden“ dass er Bedürftigen geholfen habe, indem er Brot und Gemüse usw. für sie organisiert habe. Die Faschisten kamen dann nicht mehr darauf, das Rad zu zerlegen.

    Nach dem Krieg, bei der Tour de France, wurde er als Italiener, als Faschist, dann beschimpft und auf einer Etappe vom Rad gezogen und verprügelt. Louison Bobet, der Führende, drehte daraufhin um, stemmte sich seinen Landsleuten entgegen und rief ihnen zu, sie sollten sich schämen, Gino Bartali so zu behandeln. Und nie hat Bartali entgegengehalten, was er tatsächlich im Krieg getan hat. Bartali hat das Richtige getan, als lebensbejahender Mensch aber dann sein Leben gelebt und wieder Rennen gefahren.

    Nicht minder interessant ist die Geschichte auf der Ebene seines Verhältnisses zu Fausto Coppi. Auch das lässt sich nicht auf rein sportliche Ergebnisse reduzieren.

    Das Radfahren war gestern ein wenig anders als sonst.

  9. kreuzbube schreibt:

    fritz, Du triffst da einen Nerv. In der Tat habe ich dieses Jahr so viele Ausflüge unternommen, dass mir so langsam ein wenig die Puste ausgeht, obgleich jede Unternehmung für sich richtig schön war. Einem tollen Frühjahr folgte ein wunderbarer Sommer. Das sind jeweils Kurzurlaube für mich, weil das Verreisen derzeit nicht so gut geht. Aber irgendwann wird es auch Zeit, mal wieder ein paar andere Dinge zu treiben – oder einfach nichts zu tun, sonst verlernt man den Müßiggang.

    Gleiches gilt für das Schreiben. Ich habe viel geschrieben und ich habe ausführlich geschrieben. Da naht der Punkt, an dem ich auch mal wieder eine Blogpause einlegen muss.

    Noch ist es aber nicht so weit. Den engagierten Veranstaltern dun Helfern der heutigen Historica schulde ich einen Beitrag, bei dem ich mir noch einmal Mühe gebe. Und der Concours des Corbeaux ist ein abschließende Höhepunkt der Saison, auf den Eric und ich sei fast einem Jahr hinarbeiten und bei dem wir die Ehre haben, Gäste empfangen zu dürfen.

  10. fritz_ schreibt:

    Jung, die Schlagzahl deiner Termine ist ja übermenschlich!
    Wär‘ es nicht recht und billig, wenn du nächstes Wochenende mal die Füße hochlegst, dir mit deiner Frau Ruhe gönnst und die Tür abschließt?
    (Deckung! :-))

  11. donferrando schreibt:

    Das Fahrrad ist ein echter Traum. Meinen Glüwunsch zu diesem Schatz!

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